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Anette Stechert: Weitere Texte aus der Schreibwerkstatt

Kaufhaus VielWert

Es war ein sonniger Morgen, als Laura ihren Kleinwagen routiniert in die Parklücke steuerte. Sie schaltete das Radio aus, griff ihre Tasche und öffnete die Tür. Bunte Blätter lagen auf der Straße und dem Bürgersteig, die Bäume trugen bereits ihr Herbstkleid. Sie atmete tief ein. Sie liebte diese Jahreszeit und diese Stimmung am Morgen. Sie liebte auch dieses Viertel und, ja, eigentlich liebte sie auch ihren Job. Auch wenn einige Kunden nicht immer angenehm waren.

„Secondhand-Kaufhaus VielWert“ prangte in großen Buchstaben über der Tür eines Backsteingebäudes aus dem 19. Jahrhundert. Sie zog den Schlüssel aus ihrer Jeansjacke hervor und schloss auf. Jetzt erstmal einen Kaffee.

Sie ging in die kleine Küche hinter dem Verkaufsraum, füllte Wasser und Kaffeepulver in die Maschine und stellte sie an. Danach öffnete sie weit die Fenster, um die frische klare Luft hereinzulassen. Kritisch wanderte ihr Blick über die Regale und Schränke. Ganz schön voll war der Raum. Und heute hatte sich jemand mit einer weiteren Lieferung von Möbeln und Haushaltsgegenständen angekündigt. Wo sollte das noch alles hin? Hoffentlich kam Willi auch bald, so dass sie gemeinsam Platz schaffen konnten. Sie setzte sich auf einen der Hocker und trank genüsslich ihren Kaffee. Die Türglocke ging. Das wird Willi sein, dachte sie, und sprang auf. Im Türrahmen stand jedoch ein junger Mann mit dunklem, lockigem Haar. Er trug einen Rucksack auf der Schulter.

„Hallo“, grüßte er, „schon offen?“ „Seit 10 Minuten“, antwortete Laura. „Ist Kaufhaus, ja?“, fragte er. „Ja, secondhand. Gebraucht. Nicht neu.“ Laura dämmerte, dass er nur schlecht Deutsch sprach. „Brauchst du etwas?“

„Möbel und Essen“, sagte er. „Möbel haben wir, aber kein Essen“, sagte sie und schüttelte bei Essen verneinend den Kopf. „Okay“, machte er.

„Welche Möbel brauchst du?“ Er sah sie verständnislos an. „Do you speak English?“, versuchte sie es. „Nein.“ Er lächelte. Er war hübsch, wenn auch sehr dünn. Sie versuchte es mit einer anderen Taktik: „Was brauchst du? Ein Bett?“ Sie zeigte auf ein schlichtes Bett aus Kiefernholz. „Oder einen Tisch?“ Sie klopfte auf die Resopalplatte eines Küchentisches. Er nickte. „Ja, Tisch.“ wiederholte er.  „Der kostet 15€“, sagte sie. „Hast du Geld dabei?“ Wieder dieser verständnislose Blick. „Geld, money...“ Sie machte die internationale Geste für Bezahlen, indem sie Daumen und Zeigefinger aneinander rieb. Seine Miene hellte sich auf. „Ja, ja. Geld.“ Er zog ein zerschlissenes Portemonnaie aus seiner ebenfalls zerschlissenen Jeans. Dabei fiel sein Ausweis heraus. „Ah, Marokko“, sagte sie und lächelte ihn an.

Im Weinberg

Eigentlich wollte ich gar nicht aufmachen, als es klingelte. Dann sah ich durch die Glasscheibe der Haustür, dass dort niemand stand, sondern jemand saß, auf einem Stuhl mit großen Rädern auf jeder Seite. 

Ich merkte, wie mein Gesicht einen genervten Ausdruck annahm. Das hatte mir heute noch gefehlt. Ein Behinderter auf Betteltour. Der Mann sah durch die Scheibe und musste es wohl gemerkt haben, denn er setzte ein gewinnendes Lächeln auf. Ich öffnete.

„Guten Tag“, sagte er. „Guten Tag“, erwiderte ich. „Wie kann ich Ihnen helfen?“ hörte ich mich fragen. „Ich mache gerade Urlaub hier und wollte fragen, ob Sie mir dabei behilflich sein können?“ „Was meinen Sie?“ fragte ich perplex. „In welcher Form behilflich?“ Er erklärte mir, dass er mit einer Reisegruppe unterwegs sei, er deren Programm allerdings ziemlich langweilig fände. „Die Teilnehmer machen heute einen Ausflug in das Oldtimer Museum“, fuhr er fort, „und das interessiert mich überhaupt nicht.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich verstehe  gar nicht, wie man in solch einer Gegend überhaupt in ein Museum gehen kann.“ Er deutete mit großer Geste auf den Fluss und die umliegenden Weinberge. Ich musste lächeln. Seine Begeisterung für die Gegend war sympathisch, und - ich musste es zugeben - er war es auch.

„Was schwebt Ihnen denn stattdessen vor?“ Er hatte konkrete Vorstellungen. „Ich würde gern den Weinlehrpfad gehen“, teilte er mit. Oho, dachte ich, und interessanterweise sagt er „gehen“. „Aber ich schaffe das nicht allein, die Wege sind zu steil.“ Wieder lächelte er. „Wenn Sie also Zeit hätten, würde ich mich freuen, wenn Sie mich begleiten würden.“ Du meinst wohl, wenn ich dich schieben würde, fuhr es mir durch den Kopf. Aber irgendwie gefiel mir der Gedanke. Die Hausarbeit, die ich begonnen hatte, konnte warten, und auch ich war den Weg schon lange nicht mehr gegangen.

Wenig später schob ich ihn die Straße entlang. Ich konnte spüren, wie die Nachbarn uns beobachteten. Während ich ihn mühsam zwischen den Reben den Hang hochschob, erzählte Ali mir aus seinem Leben. Geduldig hörte ich ihm zu. Er fragte nicht, was ich so mache, ob ich verheiratet sei, Kinder habe oder eine Arbeit. Er redete in einer Tour. „Ich dachte, Sie wollten die Aussicht genießen?“ keuchte ich, am ersten Aussichtspunkt angekommen. „Ich kann beides“, grinste er. „Reden und schauen.“

Wir blieben stehen. Ich setzte mich auf eine Bank und atmete schwer. „Sie sind ja ganz schön aus der Puste“,  merkte er an. „Ist ja auch kein Wunder, oder?“ entgegnete ich, und etwas bissiger: „Wieviel wiegen Sie eigentlich?“ „Wieso?“, gab er zurück. „Bin ich zu schwer für Sie?“  Sein Lächeln hatte plötzlich etwas Unangenehmes.

Es war heiß geworden, und ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Plötzlich durchfuhr mich ein Stechen in der Brust. Ich zuckte zusammen. Ali betrachtete mich. Sein Lächeln war verschwunden.

Veröffentlicht am 15.12.2022

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