Der Stadtteilschreiber isst Gemüselasagne
HINTER GITTERN - MIKROKOSMOS METZGEREI
Seit ich hier in Bäckereien und Kneipen auf Tour bin und mir außerdem über einen potenziellen Restaurant Day Gedanken mache, stelle ich wiederholt fest, dass sich an diesen Lebens- und Genussmittel-Hot-Spots das Leben abspielt, das man auf der Straße gar nicht vermutet. Und: Die Menschen sind hier beeindruckend freundlich im Umgang miteinander.
Auch jetzt wieder: Ich weiß nicht, ob ich ausgehungert aussehe, aber die Metzgerei-Fachkraft schaufelt mir eine doppelte Erwachsenenportion Gemüselasagne auf den Teller, ergänzt um einen gemischten Salat, dessen Rezept sich mit Sicherheit ebenso lange nicht geändert hat wie die 80er-Jahre-Innenausstattung. Wen kümmert's? Mich nicht. Und die vielen Menschen um mich herum schon mal gar nicht.
Beim ersten Bissen stelle ich erstaunt fest, dass diese vielen Menschen, die sich größtenteils alle zu kennen scheinen, wie verabredet aufstehen und gehen. Die Mitarbeiterinnen räumen ab und räumen auf und räumen um - vielleicht kommt gleich eine Art Anschlussschicht? Jedenfalls erfreue ich mich an meiner Lasagne und dem Gedanken, dass ich auf die (unwahrscheinliche) Frage, wo ich denn eigentlich zuletzt vegetarisch gegessen habe, „Beim Metzger" sagen kann.
Während meine Blicke über lustige Schilder wandern - „Wie bei Muttern" oder auch „Wo früher meine Leber war, ist heute eine Minibar" -, fällt mir wieder diese Freundlichkeit auf, die sogar mir, als offensichtlich Fremdem, hier entgegengebracht wird. Die sehr umtriebige Fachkraft vergewissert sich mehrfach, ob es mir schmeckt, und betont darüber hinaus, sie könne selbstverständlich nachheizen, wenn die Lasagne in der Zwischenzeit zu sehr auskühle. Alles super, bestätige ich, und erlaube mir den Scherz, ich hätte ein wenig Angst gehabt, die Lasagne sei vielleicht mit Wurst überbacken; woraufhin das Rollgitter runterfährt. Huch!
„Keine Angst, junger Mann!", heißt es nun von der mindestens 15 Jahre Jüngeren. „Wir schließen ja jetzt und wollen vermeiden, dass noch jemand reinkommt. Essen Sie mal ganz in Ruhe auf." Ich halte fest: Obwohl ich offensichtlich zehn Minuten vor Ladenschluss diese Metzgerei aufgesucht habe, um vor Ort (!) zu speisen, bekomme ich das größte Stück Lasagne meiner persönlichen Lebensgeschichte, werde fast schon mütterlich umsorgt und werde ungefragt mit eingeschlossen als wäre ich hier Stammgast. O Mann, Metzgerei kann auch Heimat bedeuten.
Als ich gerade über eine öffentliche Dankesrede und pathetische Lobhudelei nachdenke, fragt die Mitarbeiterin: „Also, wenn Sie fertig sind, würde ich Sie dann hintenrum rauslassen. Oder müssen Sie noch mal austreten?" Neben zahlreichen Definitionen listet der Duden unter „Austreten" auch „Einen Raum verlassen, um seine Notdurft zu verrichten". Wenn junge Menschen alte Sprache verwenden, übt das eine seltsame Faszination auf mich aus. Zwar habe ich wegen der Formulierung, ob ich NOCH MAL austreten müsse, kurz die Befürchtung, ich könnte bereits EINMAL ausgetreten haben, nach einem klitzekleinen Seitenblick auf den Platz, an dem ich (s)aß, antworte ich aber nur souverän: „Nö, ich wär' dann soweit."
Wie einen alten Bekannten führt die Mitarbeiterin mich jetzt durch einen nie gesehenen Metzgerei-Mikrokosmos und bleibt bis zur Verabschiedung an der Hintertür professionell freundlich. Diese Südstadt - immer wieder verblüffend.
Text und Foto: Jörg Degenkolb-Degerli
+++ Projekt-Ticker +++ Im neuen „Erzählsalon" kommen Menschen aus den Quartieren Hesselnberg und Südstadt zu Wort. Gäste der Auftaktveranstaltung am 11.12. sind Selly Wane, die seit einigen Jahren das Café Swane leitet, sowie Imam Sy, der in den 90ern als 17-jähriger Austauschschüler aus Senegal ein Jahr in Ostfriesland lebte. Ebenfalls zum Thema „Alte Heimat - neue Heimat?" erzählt die gebürtige Französin Danielle Bouchet eine Kurzgeschichte aus ihrem Leben. Jörg Degenkolb-Degerli, der seit April als Stadtteilschreiber aus den Quartieren Hesselnberg und Südstadt berichtet, wird den „Erzählsalon" moderieren. +++
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